Schülerinnen und Schüler der Integrierten Gesamtschule Buchholz (IGS) haben gemeinsam mit dem Leipziger Künstler Tilmann Haffke zum Thema „Zwischen Wut und Hoffnung“ künstlerisch gearbeitet. Gemeinsam besuchten sie dafür die Documenta 15 in Kassel und nutzten die vielen künstlerischen Anregungen und Diskurse danach für ihre Werke. Die Projektwoche ist in einer Broschüre dokumentiert worden.
Dem Künstler Tilmann Haffke war es wichtig, Kunst als offenen und spannenden Prozess erfahrbar zu machen: „Mich interessierte die Frage, ob es in unserer diversen, pluralen und sehr komplexen Gesellschaft vielleicht Gemeinsames zu entdecken gibt. Und so gingen wir vom „Was macht MICH wütend?“ über ein geteiltes „UNS macht es alle wütend, es muss sich ändern!“ zu einer möglichen demokratischen Vision einer besseren, froheren und ermöglichenden Zukunft“.
Gemeinsam mit der Buchholzer Religionslehrerin Daniela Meyer begleitete Tilmann Haffke die Gruppe der 22 Schülerinnen und Schüler (der Jahrgangsstufen 10 - 12), während der Projektwoche und beim Besuch der Documenta 15. Immer unter den Fragestellungen: Was macht mich wütend? Was lässt uns hoffen? Was wird wie auf der Documenta präsentiert und kommuniziert? Wo lassen sich Ruangrupas Grundwerte (das indonesische Kuratorenteam, das die diesjährige Documenta 15 verantwortete) von „Humor, Großzügigkeit, Vertrauen, Freundschaft, Transparenz, Unabhängigkeit und Genügsamkeit“ auffinden? Verstehen wir diese Werte, ähneln sie unseren westeuropäischen Werten? Beim Arbeiten im Kunstraum der IGS setzten die Schülerinnen und Schüler dann ihre Eindrücke in Bilder und Werke um.
Das Thema „Zwischen Wut und Hoffnung“ konnte kaum aktueller sein. In öffentlichen Debatten wurde wiederholt davon gesprochen, uns stehe ein „Wutwinter“ bevor. Seit Jahren ist zu beobachten, wie etwa Globalisierungsfolgen, Finanzmarktkrise, Erderwärmung, Corona, Inflation und Energiekrise politische Debatten verschärfen und die Gesellschaft zu spalten drohen. Wie lässt sich dem „Hoffnung“ entgegensetzen? Vielleicht durch ein „Wir“ der Familie, Freunde, Religionsgemeinde, des Sozialstaats, der EU, NATO, UN?
Am Sonntag, den 9. Oktober 2022 stellten Schülerinnen der IGS und der Künstler die Ergebnisse der gemeinsamen Projektwoche in St. Johannis vor. Außerdem sprachen an diesem Sonntag Pastor i.R. Karl-Ernst Wahlmann und Daniela Meyer (Fachbereichsleiterin Religion in der IGS) über biblische Motive zu „Wut“ und „Hoffnung“.
Im Gespräch mit dem Künstler Tilmann Haffke beschrieben Schülerinnen der IGS, was sie wütend macht und was sie hoffen lässt. Ihre Gedanken haben sie in Bildern und Texten umgesetzt und dabei unterschiedlichste Farben, Formen, Materialien und Motive verwendet. Das nachdenkliche Gespräch des Künstlers mit den Schülerinnen eröffnete einen erweiterten Blick auf die entstandenen und bis zum 13.11. im Kirchenraum ausgestellten Kunstwerke.
Tilmann Haffke warb auch an diesem Sonntag dafür, Kunst als offenen und spannenden Prozess erfahrbar zu machen; sich zu trauen, Neues auszuprobieren, ohne Perfektionsansprüche erfüllen zu müssen.
Pastor Wahlmann und Frau Daniela Meyer begannen ihr Gespräch zu biblischen Motiven und dem Projektthema mit der Frage, ob das zwiespältige Gefühl „Wut“ überhaupt zur „Hoffnung“ passe. Wut breche aus Menschen heraus, während Hoffnung wachsen müsse, Zeit brauche, damit Vertrauen entstehen könne. Wut tauche in der Bibel fast gar nicht auf und passe überhaupt nicht zu Gottesvorstellungen – Zorn allerdings schon. Zur Wut brauche es auch Mut, so beschrieb Pastor Wahlmann seine Erfahrungen aus der Seelsorge; sich zu trauen, das auszusprechen, was einen bedrückt, sei nicht einfach. Hoffnung dagegen sei ein intensives Thema in der Bibel. Das wurde am Hochzeitsvers mit den Begriffen „Glaube – Liebe – Hoffnung“ und dem Vers „Sei fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet“ ausführlich beleuchtet. Zusammengefasst: Gott begegne allen Menschen mit Liebe, dadurch könne ein Raum des Vertrauens, Glaube entstehen und Hoffnung wachsen.
Gesprächsrunde am 6.11.2022: Zwischen Wut und Hoffnung“ – SchülerInnen der IGS im Gespräch mit Prof. Jörg Scheller und Dr. Christian Brouwer
Das Thema „Zwischen Wut und Hoffnung“ wurde in einer Gesprächsrunde am 6.11.2022 nochmals aufgegriffen: Schülerinnen und Schüler der IGS (12. Jahrgang, eine andere Gruppe als beim Kunstprojekt) diskutierten mit Professor für Kunstgeschichte Jörg Scheller aus Zürich und Dr. Christian Brouwer aus Hannover/Loccum (Regionalbischof Dr. Stephan Schaede musste kurzfristig aus äußerst zwingenden familiären Gründen absagen, konnte aber Herrn Brouwer für die Veranstaltung gewinnen).
Die Schülerinnen und Schüler hatten die Diskussion zu zwei aktuellen Themen vorbereitet: „Energiekrise“ und „Fußball-WM in Katar“.
Zunächst stellten sie die beiden Gäste vor – z.B. bisherige berufliche Stationen und wissenschaftliche, publizistische Schwerpunkte von Prof. Jörg Scheller, aber auch sein besonderes Interesse für Heavy-Metal-Musik und Sport (Bodybuilding).
Die Diskussion war durch die vorbereiteten Fragen der Schülerinnen und Schüler strukturiert und wurde von allen engagiert, differenziert und auch kontrovers geführt. Angesichts der Aktualität der beiden Themen war es eine spannende, abwechslungsreiche Debatte, an der sich Besucherinnen und Besucher der Veranstaltung beteiligen konnten. Eine solche Gesprächsrunde haben wir im Rahmen unserer Kunstprojekte erstmals organisiert. Inhaltlich und vom Verlauf war es ein sehr gelungener Abend, der für die beteiligten Schülerinnen und Schüler der IGS in Erinnerung bleiben dürfte. Es war ein erfolgreicher Beitrag zum gesellschaftlichen Dialog zu wichtigen aktuellen Themen. Allerdings hätten wir uns eine größere Anzahl an Besuchern gewünscht.
Auch diese Veranstaltung – wie die Eröffnung der Ausstellung am 9.10.2022 – wurde gestreamt auf: www.youtube.com/c/KircheBuchholz
Gesprächsrunde am 22.1.2023: Zwischen Wut und Hoffnung“ – SchülerInnen der IGS im Gespräch mit Thea Dorn
Das war einfach eine großartige Veranstaltung in St. Johannis am Sonntag, den 22.1.2023, um 17.00 Uhr: Fünf Schülerinnen und ein Schüler der IGS im Gespräch mit Thea Dorn – Schriftstellerin, Essayistin und Gastgeberin der ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett“.
Das Gespräch knüpfte an ein Kunstprojekt aus dem September letzten Jahres an. Eine andere Schülergruppe der IGS Buchholz arbeitete damals mit dem Leipziger Künstler Tilmann Haffke fünf Tage zum Thema „Zwischen Wut und Hoffnung“ und besuchte dazu auch die Documenta 15 in Kassel.
Alle Schülerinnen und Schüler hatten sich intensiv vorbereitet und führten das Gespräch mit Thea Dorn selbstbewusst, sachverständig und sprachgewandt. Die Diskussion war durch große Offenheit, starkes Interesse und eine unterstützende Atmosphäre getragen. So gelang ein informatives und spannendes Gespräch. Dazu trug selbstverständlich Thea Dorn mit ihrer Begeisterung für Literatur und ihrem breiten Wissen maßgeblich bei. Ihre Fragen an die Jugendlichen waren immer zugewandt und luden zum Diskutieren ein – was von allen Schülern gerne aufgegriffen wurde. So entwickelte sich ein wirklich munteres Gespräch. Alle Gesprächsteilnehmer hatten offensichtlich viel Spaß an Literatur.
Die Schülerinnen und Schüler hatten zu dem Oberthema „Zwischen Wut und Hoffnung“ konkrete Fragen zu den Themenfeldern „Literatur“ und „Schule und heutiger Deutschunterricht“ vorbereitet und vorher mit Thea Dorn ausgetauscht. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde begann ein intensives Gespräch.
Welche Rolle, Bedeutung hat Literatur in der heutigen Gesellschaft? Welchen Einfluss haben die sozialen Medien? Thea Dorn wies darauf hin, dass erst seit etwa 200 Jahren Romane zum regelmäßigen Leseprogramm gehören und der erste Roman wurde um 1600 n.Chr. gedruckt: Cervantes, Don Quijote von der Mancha. Thea Dorns Begeisterung für Literatur erfasste alle, als sie über diesen Roman in starken Bildern sprach. Romane könnten aber nur eine Zukunft haben, wenn es dafür ein Bedürfnis gebe und das sei keinesfalls gesichert. Thea Dorn fragte die Schüler nach ihren Leseerfahrungen, nach ihren Bedürfnissen für Literatur. Diese Frage wurde gerne aufgegriffen – zu den Gedanken der Schülerinnen und Schüler einige Stichworte: für einen Moment, sich eine andere Welt schaffen; eine Auszeit nehmen, neue Perspektiven entwickeln, sich einen Rückzugsort suchen; diskutieren, weiterbilden – auch zu gesellschaftlichen, historischen Entwicklungen, Romane berühren intensiver als Sachbücher.
Außerdem wurde über aktuelle Debatten zu Grenzen in der Literatur diskutiert. Was kann, darf dargestellt, geschrieben werden? Thea Dorn nennt als Beispiel den Autor Bret Easton Ellis: Die Lektüre seines berühmten Romans „American Psycho,1991“ sei an vielen Textstellen kaum erträglich und doch liefere das Buch nachdrückliche Gefühle, Einsichten in die Entwicklung der modernen Welt. Am Beispiel des neuen Romans von Ellis „The Shards“ (wurde im Literarischen Quartett am 27.1.2023 vorgestellt), eine Mischung aus Fakten und Fiktion, wird intensiv über die Überzeugungskraft von autofiktionalen Werken diskutiert. Die SchülerInnen sehen das vor allem dann kritisch, wenn Verlage/Autoren Authentizität vor allem als Verkaufsargument nutzen. Die Wahrhaftigkeit der Bücher/der Autoren könne leide, wenn mit Wirklichkeit und Fiktion beliebig gespielt werde.
Wie geht man als Leser damit um, wenn Autor und Werk unterschiedlich bewertet werden? Thea Dorn verweist auf Knut Hamsun und seinen unbedingt lesenswerten Roman „Hunger“ (erschienen 1890). Auf der einen Seite haben wir großartige Literatur und auf der anderen Seite einen berühmten Schriftsteller (1920 Nobelpreis für Literatur), der aktiv für den Nationalsozialismus eingetreten ist.
Alle Gesprächsteilnehmer sind sich einig, dass die Bedeutung von Romanen durch die technische Entwicklung stark beeinflusst werde. So sei erst mit der Erfindung des Buchdrucks die Grundlage für den Erfolg von Romanen geschaffen worden. Die heutigen sozialen Medien verändern Aufmerksamkeitspannen und Sprache. Gleichzeitig ermöglichen sie einen schnellen Austausch von Lesern und Autoren. So werden Romane heute sogar von mehreren Autoren gemeinsam geschrieben und Leser werden am Schreibprozess beteiligt.
Eine bedenkliche Entwicklung wäre es, wenn die Sorge vor Shitstorms Themen und Sprache von Literatur einschränken würde.
Weitere Themen waren das Schulsystem und ein die Schülerinnen und Schüler ansprechender Deutschunterricht, der aktuellen Herausforderungen gerecht wird. So wurde gefragt, ob es nicht reiche, sich über literarische Epochen einen allgemeinen Überblick zu verschaffen. Müssen wirklich die „alten Autoren“ noch gelesen werden? Sollten die Schüler bei der Auswahl der Literatur beteiligt werden? Thea Dorn warb dafür, Autorinnen und Autoren auch aus verschiedenen Epochen zu lesen und eigene Erfahrungen mit Literatur zu sammeln; auszuprobieren, was zu einem selbst passe. Schule könne, solle Grundwissen vermitteln. Eigene Schwerpunkte können dann immer noch gesetzt werden. Ihre Berufung zum Schreiben habe sie noch nicht in der Schulzeit gefunden.
Eine Leseempfehlung von Thea Dorn sei noch erwähnt: „Unbedingt Kafka, Die Verwandlung (1912 erschienen) lesen“.
Bezogen auf das Schulsystem kritisierten die Schüler, dass für das Abitur nur die letzten zwei Schuljahre relevant seien. Wenn da etwas schieflaufe, würden Chancen verbaut werden. Warum könne bei der Studienwahl nicht gezielter auf einzelne Fächer geschaut werden? Wenn Sport oder Biologie nicht zu den Stärken, Interessen gehöre, warum sollten diese Fächer für ein Literaturstudium relevant sein?
Thea Dorn betonte bei der Diskussion, dass es ihr besonders wichtig sei, die Schulzeit nicht ausschließlich mit Blick auf Anforderungen der Arbeitswelt zu gestalten.
Bis 19.15 Uhr wurde engagiert diskutiert. Es blieb dann noch Zeit, um allen Beteiligten zu danken, und Besucher nutzten die Gelegenheit, sich von Thea Dorn Bücher und Veranstaltungs-Plakate signieren zu lassen.
Abschließend eine sinngemäße Aussage einer Mutter der Schüler: „Ich habe gar nicht gewusst, dass sie in St. Johannis solche Veranstaltungen durchführen. Toll, dass sie den Schülerinnen und Schülern dieses ermöglichen.“